Sechs Prozent der Deutschen leben offline „Ich habe für mich entschieden, dass ich kein Internet brauche“
Analyse | Heiligenhaus/Düsseldorf · Suchanfragen bei Google, Reiserouten auf dem Smartphone, Überweisungen am Computer: das Leben ist ohne Internet kaum vorstellbar. Für sechs Prozent der Deutschen ist das aber Realität. Wie ist das Leben offline?
Ein Leben ohne Zugang zum Internet ist für Viele kaum noch vorstellbar. Konkret für 94 Prozent der Deutschen. Laut Auswertung des Statistischen Bundesamtes von April 2023 ist fast die gesamte Bevölkerung Deutschlands im Internet unterwegs, etwa für das digitale Bahnticket, die Fast-Food-Bestellung oder um Serien zu streamen und sich über Katzenvideos zu amüsieren. Das Leben findet zu einem großen Teil in der digitalen Welt statt. Aber nicht für alle. Fast sechs Prozent der Deutschen haben eben keinen Zugang zum Internet. Woran liegt das? Und wie kommt man heutzutage offline zurecht?
Insgesamt nutzen 3,4 Millionen Menschen in Deutschland das Internet nicht. Besonders groß ist der Anteil in der Altersgruppe der 65- bis 74-Jährigen: Hier ist gut ein Sechstel (17 Prozent) offline. In der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen haben fünf Prozent das Internet noch nie genutzt. Bei den unter 45-Jährigen gibt es noch zwei Prozent Offliner.
Welche Menschen gehören denn zu den sechs Prozent, die bisher ein Leben lang offline waren? „Da gehören wir dazu“, sagt Fritz Raaner. Der Senior nimmt am Mittagstisch des Seniorentreffs in Heiligenhaus teil. An dem Angebot der Seniorengemeinschaft St. Ludgerus nimmt er regelmäßig teil. Dafür muss er sich nicht im Internet informieren. Der Tenor hier: „Wir vermissen das Internet nicht.“ Denn: Wie kann man etwas vermissen, das man noch nie hatte?
Seit 30 Jahren ist das World Wide Web für jeden nutzbar, die Arbeitswelt richtete sich bald auf die neue Technologie ein. Man kommunizierte auf einmal über E-Mail, Rechnungen und Dokumente wurden digital auf Diskette abgespeichert. Einen Wandel, den Raaner nie gemieden hat – er musste nur nie mitmachen. Der heute 85-Jährige hat als Handwerker gearbeitet und war für seine Arbeit weder auf Internet, noch auf einen Computer angewiesen. Auf den Internet-Zug ist er nie aufgesprungen. Heute sagt er, er habe „lieber ein Portemonnaie in der Tasche, als ein Handy“.
An sich fühle er sich in seiner Offline-Welt nicht abgehängt oder außenvor gelassen, berichtet er. Dem schließt sich Agnes Temme an. Die ehemalige Lehrerin lebt wie Raaner ohne Internet, sagt, dass das für ihren Lebensstil auch nicht mehr nötig sei: „Ich fahre nicht mehr in den Urlaub, ich brauch nicht mehr einkaufen zu gehen, ich treffe meine Leute hier. Die Ansprüche werden einfach weniger.“ Temme bleibt beim telefonischen Kontakt. Sie habe viele gute und lange Freundschaften, berichtet die 84-Jährige, diese Beziehungen pflege sie durch regelmäßige Telefonate.
Doch nicht alle älteren Menschen sehen ihr Offline-Leben so gelassen. Die Befragung „Leben ohne Internet – geht’s noch?“ der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (Bagso) aus dem Jahr 2022 hat ergeben, dass es für Offliner in fast allen Lebensbereichen Ausgrenzungserfahrungen gibt. Dabei berichten 91 Prozent mindestens von einer Einschränkung. 60 Prozent der Befragten geben an, in vier bis neun Bereichen gleichzeitig Barrieren zu erleben. Zu diesen Bereichen gehören die öffentliche Verwaltung, Dienstleistungen im Zusammenhang mit dem Finanzamt, Einschränkungen bei Bankgeschäften oder im Gesundheits- und Pflegebereich. Zum Beispiel falle es vielen schwer, bei Arztpraxen an Termine zu kommen, die auf Online-Vergabe umgestellt haben.
Das würde Fritz Raaner auch beklagen, wenn er in solchen Situationen keine Ausweichmöglichkeiten mehr hätte. Viele Arztpraxen bieten neben der Online-Vergabe zwar noch telefonische Terminabsprachen an, aber das verlangt oft Geduld. „Neulich habe ich beim Arzt angerufen“, erzählt er. Dort konnte er mit dem Telefon aber partout niemanden erreichen. Irgendwann ist es mit dem Senior durchgegangen, sagt er und lacht, „dann habe ich das Ding in die Ecke geworfen“. Er selber ist mit einem alten, roten Klapphandy ausgestattet. Damit er erreichbar ist, mehr brauche er nicht, so der 85-Jährige.
Seine Informationen bekommt Raaner aus Zeitung und TV. Dabei achtet er auf eine gute Dosierung. In der Zeitung lese er meist nur die Überschriften, beim Fernseher gebe es den roten Knopf, sagt Raaner. Den gebe es im Internet nicht. Ein großer Vorteil, offline zu sein. „Man bekommt nicht alles mit. Was jemand isst, wo jemand grade unterwegs ist. Das interessiert mich nicht. Ich will nicht mehr alles wissen“, so Raaner.
Trotzdem werden viele Dienstleistungen fast nur noch online angeboten. Für Menschen ohne Internet wird der Alltag zunehmend schwieriger. Vieles erledigen heute die Kinder oder Enkelkinder. Etwa, wenn die alten Menschen Rezepte für Medizin benötigen, Bankgeschäfte erledigen müssen oder etwas im Internet bestellen möchten. Und das funktioniere auch gut, so der Tenor am Mittagstisch in Heiligenhaus. Früher hätten auch sie ihren Eltern helfen müssen, etwa als der Lohn nicht mehr ausgezahlt, sondern überwiesen wurde. Das Rad der Zeit drehe sich nun mal immer weiter.
Aber nicht alle älteren Menschen haben Kinder oder Enkelkinder, die ihnen in solchen Angelegenheiten weiterhelfen können. Hinzu kommt Altersarmut. Die entsprechenden Geräte sind teuer. Sich eines davon und auch den Zugang ins Internet zu leisten, ist nicht selbstverständlich. Das sagt auch Shela Sinicropi vom Hauspflegeverein Solingen. Sie betreut gemeinsam mit ihrer Kollegin Pia Rüttgers die Smartphone-Sprechstunde „Digital Bewegt trotz(t) Alter“. „Um die digitalen Angebote nutzen zu können, braucht man nicht nur ein Handy, sondern gleich ein Smartphone“, so Sinicropi. Das sei teurer und gleichzeitig komplizierter zu bedienen.
In ihrem Kurs lernen die Senioren den Umgang mit den Geräten. Gerade im Alter sei es wichtig, sich im Internet zu vernetzen, meint Sinicropi. Besonders dann, wenn die Kinder und Enkelkinder nicht in der Nähe leben. Sylvia Schäfer besucht unter anderem den Kurs. Sie ist in Sachen Internet auf sich alleine gestellt, kommt aber bestens zurecht. Die 75-Jährige war von „Anfang an wissbegierig“, berichtet sie, gerade die Kommunikation online sei ihr ein großer Vorteil, den sie nutzen möchte. „Für mich ist das nicht nur die Zukunft, sondern die Tatsache, wir kommen um das Digitale nicht mehr herum“, sagt Schäfer.
„Es ist schön, wenn man das alles kann“, pflichtet Agnes Temme vom Mittagstisch in Heiligenhaus bei. Sie will aber weiterhin offline bleiben. Es sei „enorm“, was technisch alles möglich sei. Trotzdem habe sich alles sehr schnell und immer wieder verändert. „Man hätte früher damit anfangen müssen. Warum sollte ich mich noch damit belasten?“, sagt die ehemalige Lehrerin. Und: „Ich habe für mich entschieden, dass ich kein Internet brauche.“
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Author: Marvin Wallace
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